Predigt über Markus 1,32-39 (19. Sonntag nach Trinitatis)

32 Am Abend aber, da die Sonne untergegangen war, brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen. 33 Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür. 34 Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus und ließ die Dämonen nicht reden; denn sie kannten ihn. 35 Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus. Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort. 36 Und Simon und die bei ihm waren, eilten ihm nach. 37 Und da sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich. 38 Und er sprach zu ihnen: Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Orte, dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. 39 Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die Dämonen aus.

 


 

War Jesus vielleicht auch burnout-gefährdet?

Wenn ich unseren heutigen Predigttext im Zusammenhang betrachte, drängt sich mir der Eindruck auf: kaum hatte Jesus mit seiner Arbeit begonnen, schon drohte sie ihm zu groß zu werden. Ja, Jesus wird hier auf eine gewisse Weise sehr menschlich beschrieben. Mit der Gefahr der Überlastung und des Ausbrennens. Es scheint fast, als wäre er Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Nur wenige Verse zuvor können wir lesen, wie er groß gestartet ist. Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um, glaubt an das Evangelium. Jünger hatte er berufen, und war mit ihnen losgezogen. Er hatte begonnen zu predigen, offenbar in sehr beeindruckender Form. Er hatte auch Kämpfe nicht gescheut. Sehr plastisch wird das von Markus ausgedrückt: es war ein Mensch, besessen von einem unreinen Geist, der schrie: Was willst Du von uns, Jesus von Nazareth? Jesus hatte ihn daraufhin bedroht: verstumme und fahre aus von ihm. Jesus hatte den Dämonen den Kampf angesagt, er wollte Menschen befreien von verderbenbringenden Abhängigkeiten, sie herausreißen – im wahrsten Sinn des Wortes – aus dem, was sie kaputt macht.

Immer wieder wies er darauf hin: Gott ist euch nahe, darum kann euer Leben nicht so bleiben wie es war. Es gibt da so vieles, was euch gefangen nimmt. Zeit zum Aufräumen.

In Vollmacht predigte er, mit großem Charisma handelte er. Die Menschen waren beeindruckt, zugleich spürten sie auch, dass hier etwas völlig neues geschah. Sie entsetzten sich über seine Lehre, so stellt Markus gleich mehrfach fest. Und mehrfach betont er zugleich: Alle wollten jetzt etwas von Jesus.

Und plötzlich, auf der Höhe seines Erfolges, erscheint Jesus so menschlich. Aber gerade darin scheint er mir so nah. Wenn ich zum Beispiel lese, dass abends nach Sonnenuntergang „alle Kranken und Besessenen“ zu ihm gebracht werden, so erinnert mich das an manche Abende, wo die Arbeit schlicht nicht aufzuhören scheint. Eigentlich will ich nur ein bisschen Ruhe, ihr werdet das kennen. Aber das unerledigte drängt sich förmlich auf. Es stimmt zwar: „er half vielen Kranken“, er „trieb viele böse Geister aus“. Aber wenn sie alle kommen, dem wird er nicht Herr. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, wenn unser Predigttext von diesem Kontrast zwischen allen und vielen spricht. Sie brachten alle Kranken, er heilte viele. Nun kann man sagen, sieh auf die Vielen. Immerhin: eine nicht kleine Zahl von Menschen, denen Jesus helfen konnte. Aber doch bleibt diese beinahe unbarmherzige Diskrepanz: alle, denen geholfen werden müsste – nicht alle, bei denen es gelingt. Es legt sich nahe, genau auf die zu schauen, denen man nicht das geben konnte, was sie eigentlich brauchten. Und je genauer man hinschaut, desto größer wird die Menge der unerledigten Vorhaben. Und das am Abend nach Sonnenuntergang.

Jetzt braucht der Helfer selbst Hilfe. Er spürt eine Art Strudel, in dem er tatsächlich untergehen könnte. So wenig Tag ist noch übrig für so viel, was noch offen ist. „Die ganze Stadt war versammelt vor der Tür.“ Wie gesagt, mir scheint, dass Jesus Opfer seines Erfolges wird. Er stemmt sich gegen die ganze Not, die ihm da entgegenströmt. Er heilt hier und da, die dunklen Mächte lässt er gar nicht erst zu Wort kommen. Es ist viel, das er vermag. Aber eben nicht alles. Und genau dieser Rest, den er nicht erreicht, der bedrückt ihn.

Ich brauche nicht lange, um mich in diese Gefühlslage hineinzudenken. Früher, vor allem in den Zeiten, wo ich Student war, habe ich gern abends und nachts gearbeitet. Ich fühlte mich kreativ und manchmal gab es regelrecht einen Fluss an Ideen. Heute geht es mir eher so, dass ich an manchen Abenden denke: heute hast du vergessen, rechtzeitig aufzuhören. Du hast Dir noch etwas vom Schreibtisch mit nach Hause genommen. Diese Kleinigkeiten könnten ja noch erledigt werden. Aber das Gegenteil ist eingetreten. In Zahlen gesprochen: du hattest das Gefühl, na ja, zu dem, was du heute schaffen willst, fehlen noch 5 oder 10 Prozent. Vieles ist ja schon geschafft. Aber dann habe ich den Eindruck, dieser kleine Rest wird eher größer als kleiner. Ich bin auf das fixiert, was noch fehlt. Und plötzlich frage ich mich: was hast du heute überhaupt erreicht? Nur gut, es gibt auch viele andere Abende, aber diese sind bedrängend. Besser wäre es gewesen, die Arbeit gleich im Büro zu lassen. Aber sie ist eben mitgekommen, und jetzt breitet sie sich genüsslich vor mir aus.

Aber bei Jesus, so denke ich jetzt, dürfte das doch eigentlich nicht passieren. Ich habe vielleicht einfach schlecht geplant. Aber Jesus dürfte doch über so etwas erhaben sein. Und doch werde ich den Eindruck nicht los, ihm geht es manchmal genauso. Und das finde ich dann wieder ungemein tröstlich. Auch ihm wird der Tag am Abend zu kurz.

Was aber tun? Leider habe ich jetzt nicht das Patentrezept. Aber mir fallen an Jesus ein paar Dinge auf, die ich mir zu Herzen nehmen möchte. Da ist zuerst der Schritt von sich selbst weg. Früh am Morgen, als noch kein Handy klingelt und der Tag noch so herrlich offen und friedlich ist, geht Jesus hinaus. Er geht an eine einsame Stätte und betet. Ich glaube, da sind zwei Dinge beieinander. Es ist einerseits der Abstand von sich selbst. Es ist, wie wenn Jesus am Morgen auf einen Berg steigt, und das, was unten liegt, mit jedem Schritt kleiner, vielleicht auch etwas unwichtiger wird. Wohl dem, der so aus sich herausgehen kann. Aber das geht eben selten aus eigener Kraft. Und darum kommt als zweites das Hingehen zu Gott dazu. Gerade im Gebet finde ich den Abstand zu mir selbst. Im Gebet sortieren sich die Gedanken, im Gebet wird der Auftrag wieder klar. Ich mache, ehrlich gesagt, nicht die Erfahrung, dass das immer so eintritt. Aber in bestimmten geschenkten Momenten eben doch. Plötzlich räumt da Gott selbst meinen Schreibtisch auf. Im Gebet gewinne ich sozusagen den Tag zurück, der mir am Abend zuvor entgleiten wollte.

Schön und gut, aber die Zeit ist nicht da. Das sagen die Jünger, und wer wollte ihnen widersprechen. Jedermann sucht dich. Was sagt aber Jesus: Lasst uns anderswohin gehen. Offenbar hatte er da oben auf dem Berg – ich weiß natürlich ist, ob es tatsächlich ein Berg war, dieser einsame Ort, für mich ist der Berg ein bildhafter Begriff für den Überblick, den Jesus im Gebet gewonnen hatte. Also da oben auf dem Berg merkt er plötzlich, dass er besser nicht wieder an den selben Ort zurückgeht. Vielleicht spürt er die Gefahr, dass ihn die schier unzählbare Not der Menschen erdrücken könnte. Denn sie geht ihm ja zu Herzen. Gerade weil er seinen Berufung kennt, muss er sich dieser gelegentlich entziehen. Er kann nicht für alle da sein, er kann nicht alles Bedrückende lösen. Jedenfalls momentan noch nicht. Es bleibt sein Ziel, möglichst alles abzuschaffen, was Menschen den Atem nimmt, sie nicht schlafen lässt, was Schmerzen macht und Kummer bereitet. Jesus will nichts weniger, als die Welt verändern. Gerade darum muss er sagen, hier ist es erst einmal genug. Heute will ich an einen anderen Ort gehen. Und dann steht der interessante Satz: denn dazu bin ich gekommen.

Ich dachte an dieser Stelle: es ist wohl so, dass Jesus gerade im Abstand des Gebets und im Eingeständnis auch seiner Grenzen den Auftrag neu entdeckt, der ihn ja zu Beginn angetrieben hatte. Predigen. Das Reich Gottes zu den Menschen bringen. Dass die Welt nicht sich selbst überlassen ist, sondern Gott gehört. Dass es möglich ist, sich zu ändern. Dass Leid und Schmerz nicht nach Gottes Willen sind. Davon wollte und will er reden, davon will er auch in seinem Verhalten reden, so will er den Menschen gegenübertreten. Zum Predigen ist er gekommen, im ganzheitlichen Sinn. Dazu gehört auch das Heilen, dazu gehört der Kampf mit dunklen Gedanken. Aber dieses heilende Handeln ist eben Teil der Predigt von Gottes Reich. Und so hat es auch seine Grenzen, es hat einen zeichenhaften Charakter. Und Jesus hört ja auch nicht auf damit. Am Ende unseres Predigttextes wird wiederum auf die Austreibung der Dämonen hingewiesen. Mein Eindruck ist: gerade um seiner Berufung treu zu bleiben, muss Jesus zwischendurch immer mal Abstand davon gewinnen, das unvollendete auch mal stehen lassen und einfach an einem anderen Ort neu ansetzen.

Es liegt nahe zu vermuten, dass am nächsten Abend wieder das Unerledigte auf sich aufmerksam machen will. Aber gerade im Gebet gewinnt Jesus wieder neu den Überblick. Am Morgen ist wohl leichter als am Abend. Möglich ist es auf jeden Fall. Und so gehen meine Gedanken noch einmal zurück an die Stelle in unserem Bibeltext, wo es heißt: die ganze Stadt war versammelt vor Tür. Dass ich sie als Ganze nicht reinlassen kann, wird schon daran klar, dass ich eben doch nur eine begrenzte Zahl von Quadratmetern an Wohnraum zur Verfügung habe. Um das zu lernen, muss ich selbst manchmal rausgehen, an die einsame Stätte, auf den Berg des Gebets. Dann es gut geschehen, dass ich wieder neue Freude an meiner Wohnung habe, dass dieser und jener gern reinkommen darf und wir gemeinsam sagen: Gott ist schon ganz schön speziell. Wie er das immer wieder hinbekommt, mich zu motivieren, wie auch manchen Erfolg schenkt und wie er stetig dran bleibt, Besitz zu ergreifen von seiner Schöpfung. Und wie der den dunklen Gedanken heimleuchtet. Wie er’s macht, bleibt mir oft verborgen, aber es reicht ja zu wissen, dass er’s macht.

Thomas Knittel
Einsegnungsrüstzeit, Moritzburg am 22.10.2017

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